Schneewittchen lebt
Schneewittchen lebt… und ich weiß sogar seinen Namen: Erika – aus Heidelberg. Doch wie geht das?
Nun, das ist kurz gesagt eine lange Geschichte aus dem Frühsommer 2010. Es war die Zeit, dass ich mich auf die Reise nach Bad Reinhardshausen / Bad Wildungen begab, meinem Körper und meiner Seele Gutes zu tun. Nach langer Reise mit der Bahn vom schönen Weiterstadt, der Stadt wo nach Aussage bayerischer Bänkelsänger das Möbel haust, in einem bayerisch stämmigen Möbelhaus an der Autobahn, erreichte ich den einsamen Bahnhof in Wabern. Bahnhof? Zwei Bahnsteige und ein Gebäude mit dem Status „wird renoviert oder abgerissen?“ Die Weiterfahrt nach über einer Stunde Wartezeit mit der Kurhessischen Bahn, wie zu Großherzogs Zeiten führte mich durch eine, angesichts von leichten Nebelschwaden verwunschen anmutende, Landschaft. Idyllisch gelegene kleine Ortschaften mit Namen wie „Wega“ oder „Ungedanken“, einsam gelegene Bauernhöfen versetzten mich als Städter in eine mir völlig unbekannte Welt. Heute weiß ich, das waren die Vorboten einer schier unglaublichen Geschichte, die so seid versichert sich genau so zugetragen hat.
Die ersten beiden Wochen von dreien waren geprägt von dem täglichen Training und dem drei-mal-täglichen Gang zum Buffet zur Gesundung meines Körpers, der Geist wurde durch die Übertragung der Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika. Die „Klinik mit Hotelcharakter“, so die eigene Definition des kaufmännischen Direktors, sparte nicht an Bildübertragungsgeräten. Auch die Dörfler wollten dem Trend der Neuzeit gerecht werden, dem „Public Viewing“! Flugs wurde die Dorfstraße gesperrt, eine Vidiwall, Bierzeltgarnituren aufgestellt und Verpflegungspunkte (Biertränken und Grills) eingerichtet. Und doch war es möglich, außerhalb dieses Fußball-Hipes nette Menschen kennen zu lernen. So geschah es, dass in der zweiten Woche meines Aufenthaltes sich die Bekanntschaft zu Brigitte und Erika ergab, zu denen sich dann auch noch Wolfgang, der Tischnachbar von Erika und begeisterter Mountainbiker (vorhin nur mal kurz rund um den Edersee) gesellte. Kaum kennen gelernt, schon wurde der allabendliche Spaziergang mit abschließender Einkehr in der „Besenkammer“ oder dem ihr vorgelagerten Biergarten zum festen Bestandteil der Abendunterhaltung. Von unseren Füßen bergauf und bergab getragen, wurden die Folgen der Genüsse des abendlichen Buffets abgemildert, der besseren Verdauung zugearbeitet und so ein gewisser kleiner Durst entwickelt.
Radler oder Weißbier, die Hauptsache kalt und nass, wie weiland die Ritter auf der Märchenstraße und ihrem Halt in Bad Wildungen. Stand der Mai in diesem Jahr doch unter dem Motto „Märchen“ und so war es auch nicht weiter verwunderlich, als wir im Laufe der abendlichen Gespräche hin und wieder dieses Thema aufgriffen. Nichts geschieht ohne Grund, und genauso geschah es mit den Märchen. Was macht man, wenn man sich als „Kur“-Gast kennen lernt? Richtig, man vergleicht die Zimmer. Der eine hat Balkon… und schwitzt, der andere hat keinen Balkon, dafür Nordseite und hat’s schön kühl. Erika aber hatte ein ganz besonderes Zimmer: Mit Balkon, schwitz-warm, und Sanitärobjekte in Kleinkindhöhe. Was schlossen wir drei anderen, Brigitte (alias Miss Marple), Wolfgang (alias Sherlock Holmes und Erik (alias Hercule Poirot) messerscharf? Märchenstraße, Märchengarten, Märchenwochen… und was gibt es in Märchen? Sie haben es erraten:
Z W E R G E ! Und wo wohnen die? Im Zwergenzimmer! Und wer noch? Schneewittchen! Und wer wohnt jetzt dort? Erika! Und wo kommt Erika her? Aus Heidelberg! Und was gibt es dort? Ein Schloss! Diese Erkenntnis traf uns wie ein Blitz: Schneewittchen sitzt inkognito bei uns am Tisch und wohnt in der Klinik mit den sieben Zwergen zusammen. Auch Erika war von dieser Erkenntnis überwältigt.
Noch etwas ungläubig folgte sie unseren Schlussfolgerungen und Kombinationen. „Hatten wir etwa recht? Geschahen nicht ab und zu unerklärliche Dinge in ihrem Zimmer? Nur Kleinigkeiten zwar, kaum dass sie auffallen. Aber lag heute Morgen die Haarbürste nicht anders als gestern Abend? Und waren nicht auch die Hausschuhe verrückt? Apropos verrückt… ihr macht mich total verrückt… ihr nehmt mich doch nur auf den Arm!“ „Klar doch“, beruhigte ich sie „aber es muss doch einen Grund haben, dass in deinem Zimmer die Toilettenschüssel und das Waschbecken so tief angebracht sind und du auf die Knie gehen musst, um dir die Hände zu waschen. Ich könnte mir schon vorstellen, dass an der Stelle deines Zimmers ganz viel früher das Zwergenhaus stand.“ Auch meine Mitdetektive fanden diese Möglichkeit als nicht so weit hergeholt und so wurde mit „Schneewittchen“ kräftigst weiter „spintisiert“.
Es war doch mehr als verwunderlich, oder auch nicht, dass ausgerechnet Schneewittchen Erika aus Heidelberg, mit dem Schloss, dieses Zimmer bekam. Auch die Ausführung des Zimmers mit diesen für „Zwerge“ angepassten Einrichtungen deutete klar auf einen historisch bedingten Hintergrund hin. Dass Erika gewisse kleine Ungewöhnlichkeiten bemerkt haben will, wobei ich glaube, sie hat uns damals ebenfalls kräftig auf den Arm genommen um unsere zusätzlich Phantasie beflügeln, spielte bei unseren Überlegungen nur eine untergeordnete Rolle. Und über all diesem Gedankenaustausch war es schon wieder Zeit zum Aufbruch zurück in die Klinik, Zapfenstreich 22:30 Uhr, pünktlichst!
Gut gelaunt ob dem lustigen Geplänkel über „Schneewittchen und ihre Zwerge“ erreichten wir die Pforten unserer Klinik und wünschten uns gegenseitig eine Gute Nacht. Eins konnte ich mir aber doch nicht verkneifen, so einen letzten: „Erika, ich würd‘ doch mal unterm Bett nachschauen. Zwerge verstecken sich übrigen gerne im Bettkasten, hast Du einen?“ Wusste sie nicht, aber versprach nachzusehen.
Als ich am nächsten Morgen den Speisesaal betrat, fand ich an zwei bestimmten Tischen bestimmte Personen mit fröhlichen Gesichtern und einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Da fing der Tag doch gleich ganz anders an… dazu noch die Sonne am blauen Himmel. Den ganzen Tag, immer wenn Mitglieder der „Viererbande“ sich beim Schichtwechsel in der Gymnastikhalle, in der Muckibude oder der medizinischen Abteilung über den Weg liefen waren „Schneewittchen“ und „Zwerge“ die Reizworte für echte Lachflashs. Erheiternd für uns Insider war zusätzlich die allgemeine Verständnislosigkeit der jeweils sonstigen Anwesenden. Die Folgen dieser von uns gepuschten Unkenntnis unserer Mitmenschen waren unter anderem auch im Speisesaal festzustellen, was sich in einem allgemeinen Gemurmel an einigen Tischen zeitgleich mit unserem Erscheinen bemerkbar machte. Die allabendliche Verabredung zum konspirativen Spaziergang mit anschließender Lästerrunde im Biergarten und der weiteren Ermittlungen nach dem Verbleib der Zwerge taten ein Übriges.
Schneewittchen Erika berichtete jedenfalls pflichtgemäß, dass sie in ihrem Bettkasten nach den Zwergen nachgesucht habe. Leider wurde sie keinerlei Spuren habhaft, was meines Erachtens auch daran lag, dass kein Bettkasten oder ein etwas einem solchen Ähnelndes vorhanden war. Auch eine theoretisch durchgeführte Suche in einem eventuell vorhandenen virtuellen Bettkasten war nicht von Erfolg beschieden. Wo also waren die Zwerge abgeblieben?
Das Wochenende stand vor der Tür und Erika bekam Besuch von ihrem Ehemann. Daher beschlossen wir, Samstag und Sonntag eine Auszeit bei unseren Ermittlungen zu nehmen, die Seele baumeln zu lassen und so den Kopf frei für neue Erkenntnisse zu bekommen.
Und da gab es schon Ansatzpunkte wie z.B. die etwas unterhalb unserer Klinik gelegene Klinik für psychosomatische und psychische Erkrankungen. Nur weil die Patienten dieser Klinik sich augenscheinlich nicht für Zwerge interessierten, mehr den zwischenmenschlichen Beziehungen und den verpassten „Gelegenheiten“ in der Jugend frönten, hieß das noch lange nicht, dass unsere Zwerge sich dort verborgen hielten. War dieser mögliche Unterschlupf doch in Zwergenfuß-läufiger Entfernung.
Unsere Überlegungen wurden aber am Montag jäh von Erika unterbrochen. Sie berichtete von ihrem Ausflug mit ihrem Ehemann an den Edersee und Umgebung… und was hat sie dort gefunden? Nöö… nicht die Zwerge aber ein Hotel Namens „Haus Schneewittchen“. Und dort gab es sogar ein Angebot „Schneewittchenträume“. Auch intensives Nachfragen und Suchen führte Erika und ihren Mann noch nicht einmal ansatzweise auf eine lauwarme Spur bezüglich unserer Zwerge. Obwohl, so abwegig war der Gedanke ja nicht, dass die Zwerge dort eventuell einen „Traumjob“ angenommen hatten. Auch Zwerge haben Bedürfnisse… oder?
Wie dem auch sei, am Mittwoch waren wir einhellig der Meinung, dass alle unsere Vermutungen, Recherchen usw. ins Leere liefen und wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in diesem Jahr keine heiße Spur mehr finden werden. So blieb das Geheimnis der Zwerge von Reinhardshausen im Jahr 2010 verborgen und ungelöst.
Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben: Wir beschlossen, dass wir versuchen werden, nächstes Jahr jemanden in die „Psycho-Klinik“ Undercover einzuschleusen. Wir wollen doch nicht dumm sterben…oder?
©Erik A.C. Bogorinski – 15.07.2010